„Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, ein vernünftiges Wort sprechen.“ _Johann Wolfgang von Goethe

945 Jahre Gang nach Canossa

"Nach Canossa geh'n wir nicht."

Das verkündete Otto von Bismarck 1872 im Deutschen Reichstag.

Das waren starke Worte des Kanzlers des Deutschen Kaiserreichs, das von 1870/71 bis 1918 existierte. Der frisch gegründete Bundesstaat hatte einen Botschafter zum Vatikan gesandt.

Der Papst lehnte den Botschafter ab, weil dieser die kurz zuvor beschlossene Unfehlbarkeit des Papstes angezweifelt hatte. Die Unfehlbarkeit gab dem Papst die Macht, letzte Instanz in katholischen Glaubensfragen zu sein.

Allerdings war der Papst auch nicht amüsiert über den Kulturkampf mit Preußen, dem protestantischen Stammlandes des Deutschen Kaiserreichs. Der preußische Staat entzog der Kirche unter anderem die behördliche Verantwortung über Geburt, Heirat und Sterben. Für deren juristische Erfassung waren seit 1874 die Standesämter zuständig, nicht mehr die Pfarrer. 

Heute beherbergen Kreisarchive und Stadtarchive historische Personenstandsunterlagen.

Der römisch-deutsche Kaiser Heinrich II. ging im Dezember 1076 einen Bußgang über die winterlichen Alpen nach Canossa, einer Burg im italienischen Alpenvorland. 

Zuvor hatte der Papst Gregor VII. den Kaiser exkommuniziert, aus der Kirche ausgeschlossen. Damit war rechtlich kein Regieren mehr möglich, der Kaiser galt als von Gottes Gnaden eingesetzt. Alle Verträge und Vereinbarungen waren auf den kirchlichen Gott geschworen. Diese Verträge galten theoretisch nun nicht mehr, da der Kaiser nun außerhalb der Kirche stand. 

Papst Gregor VII. war auf dem Weg zu einem Treffen mit den deutschen Fürsten. Zusammen wollte Fürsten und Papst den Kaiser Heinrich IV. anklagen, verurteilen, entmachten. 

Kaiser Heinrich IV. durchkreuzte den Plan. Im Dezember 1067 machte er sich auf nach Canossa. So stand der Kaiser Ende Januar 1077 als Büßer barfuß im Schnee vor der Burg Canossa. Dort rastete der Gregor VII. auf seinen Weg nach Deutschland zu den Fürsten. 

Kaiser Heinrich IV. erfüllte durch seine Buße alle Formalitäten zur Wiederaufnahme in die Kirche. Der Papst musste den Kaiser wieder aufnehmen. Damit legitimierte der Papst den Kaiser sogar. 

Die deutschen Fürsten fühlten sich vom Papst im Stich gelassen gegen den Kaiser und gingen langfristig auf Distanz zum Papsttum. Das bereitete unter anderem langfristig die deutsche Reformation vor.

Papst und Kaiser verloren für immer ihre "glaubhafte" Legitimation als von Gott eingesetzt. Diese göttliche Einsetzung gab es nur noch auf dem Papier, sehr bald nicht mehr im Bewusstsein der Gesellschaft. 

Kaiserherrlichkeit und Papsttum verloren ihre göttliche Rechtfertigung und verloren damit langfristig an ideologischer Bedeutung. 

Das Mittelalter war nach dem Gang nach Canossa auf dem absteigenden Ast. Der Zenit war überschritten. Die Neuzeit bereitete sich vor, das Mittelalter abzulösen. Das Zeitalter des Glaubens endete das Zeitalter der Vernunft sollte beginnen. 

Doch wie spottet Mephisto, der Teufel, in Goethes Faust I über den Menschen: "Er nennt's Vernunft, doch brauchts allein, um tierischer als jedes Tier zu sein."

Michael Zeng