„Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, ein vernünftiges Wort sprechen.“ _Johann Wolfgang von Goethe

Freitag, 28. August 2020

Abgeklärt oder was ich in der Charité erlebte

Vor einigen Wochen habe ich mich aufgeregt. Es geschah an meinem Arbeitsplatz. Immer, wenn ich sehr aufgeregt bin, plagt mich ein stechender Schmerz in der Herzgegend. Da ich ein ruhiger Typ bin, geschieht das nur zwei bis drei Mal im Jahr. Die Schmerzen dauern etwa fünf Minuten, danach geht es wieder. Diesmal ging die Geschichte weiter.
Vor einigen Wochen, als die Schmerzen kamen, ging ich zur Betriebsärztin. Die horchte mich ab, fühlte den Puls, maß den Blutdruck und fand nichts. Sie empfahl mir, mich in der Notaufnahme der Berliner Charité zu melden, zur Sicherheit. 

Ich betrat also zum ersten Mal im Leben die Charité. Wow! Ich stellte mich dem jungen Burschen in der Notaufnahme vor. Er nahm meine Daten auf, scannte die Versicherungskarte und sagte mir, wo ich mich melden solle. Ich meldete mich und musste warten. Gegen 17 Uhr setzte ich mich also in den Wartebereich und wartete. Nach einer halben Stunde führte mich ein Pfleger in ein Krankenzimmer. 

Transportable Wände teilten den Raum in drei Bereiche. In jedem Bereich stand eine Untersuchungsliege. Auf die hintere musste ich mich legen. Eine junge Frau kam, vermutlich eine Ärztin, und fragte mich nach meiner Krankengeschichte. Ich berichtete von den Schmerzen in der Herzgegend und erklärte, dass es seit drei Stunden vorbei sei. Sie notierte sich meine Angaben und fragte, ob ich das mal habe abklären lassen. Ich verneinte. Die Schmerzen haben ja immer bald wieder aufgehört, da sei mir der Aufwand, zum Arzt zu gehen, zu groß gewesen. Die junge Frau rümpfte die Nase und verschwand. 

Kurz darauf kam eine Krankenschwester. Sie klemmte meinen rechten Zeigefinger in eine Klammer, von der ein Kabel in eine Maschine führte. Die Maschine sah aus wie ein 60er-Jahre-Computer und piepste. Den linken Arm schloss die Schwester an einen Tropf an. Ich fragte, was nun in mich hineinlief. „Ein Schmerzmittel“, klärte sie mich auf. „Ich habe seit vier Stunden keine Schmerzen mehr“, rief ich. Die Schwester blieb hart. Sie sei angewiesen worden, das zu tun und tue es. Sprach's und verschwand. 

Nun blieb ich eine Stunde allein. Nach dieser Zeit erschien eine ältere Frau im grünen Kittel, vermutlich eine Ärztin. Sie fragte mich nach meinen Beschwerden. Ich erzählte ihr davon. Sie notierte sich wieder alles und fragte, ob ich das habe mal abklären lassen. Ich sagte: „Nein!“ Ich erklärte warum. Die Frau sah mich an, als habe ich die Pest verschwiegen und verschwand. 

Wieder blieb ich allein, für eine Stunde. Niemand interessierte sich für das Piepsen des Apparats, an dem mein rechter Zeigefinger immer noch angeschlossen war. Der Inhalt des Tropf-Behälters ging langsam zur Neige. Horrorgeschichten vom qualvollen Tod durch injizierte Luftblasen quälten mich. Langsam schliefen meine Arme ein. Die Minuten tröpfelten. Nach etwa einer Stunde erschien ein nervöser Mann im weißen Kittel. „Er sei ein Neurologe“, stellte er sich vor und befahl mir: Ich solle meine Hose ausziehen. 

Als erstes befreite dieser Neurologe meinen rechten Zeigefinger von dem altertümlichen Computer. Ohne diesen eines Blickes zu würdigen. Dem Apparat gefiel das gar nicht. Er piepste nun wütend. Ich vermute, die Kiste dachte, ich sei tot und wollte Hilfe herbeipiepsen. Es kam keine Hilfe. Ich war dem Mann im weißen Kittel ausgeliefert. Er beklopfte mit einem Hämmerchen meine nackten Beine und meinen Bauch. Dann kitzelte er mich mit einem Stöckchen. Schließlich klopfte er mich mit den Händen ab. Der Mann in Weiß ließ mich einen Bleistift mit den Augen verfolgen, hoch runter, links, rechts, hoch, runter, links, rechts. Der Apparat piepste weiter. Der Neurologe verlor die Nerven. Er drückte an der piepsenden Kiste herum ohne etwas zu erreichen. Der Apparat piepste weiter, immer wütender. Das reizte den Neurologen noch mehr. Der Mann im weißen Kittel riss den Netzstecker aus der Dose. Das brachte den Apparat zum Schweigen. 

Erleichtert seufzte der Neurologe. Als der Apparat verstummte, fragte ich, was ich nun eigentlich habe. „Nichts Organisches“, erklärte der Neurologe. Allein die Tatsache, dass ich noch lebe, bedeute, es sei nichts Ernstes gewesen. Das beruhigte mich. „Aber was machen Sie dann hier?“, fragte ich den Mann im weißen Kittel. Er suche die Ursachen meiner Schmerzen, antwortete er. Hammer, Stöckchen und Bleistift halfen ihm wohl nicht, zu finden was er suchte. 

Nun musste ich selbst ran. Ich musste aufstehen. Dabei hinderte mich die Kanüle, die immer noch in meinem linken Arm steckte und mich mit dem leeren Tropf verband. Der Neurologe riss die Kanüle aus meiner Armbeuge. Mein Blut tropfte auf den Boden. Das nervte den Neurologen. Ich fand es interessant. Mit Mitteln und Methoden, die mir in einem Feldlazarett unter Beschuss eingefallen wären, brachte der Mann in Weiß die Blutung zum Stillstand. 

Er hätte einen Pfleger oder eine Schwester rufen können, tat es aber nicht. Statt dessen ließ er mich Leibesübungen machen. Irgendwann musste ich auf dem linken Bein hüpfen. Dann auf dem rechten. Schließlich hüpfte ich auf beiden Beinen. Ich hüpfte. Mein Blut tropfte weiter auf den Boden. Der Mann in Weiß ließ mich hüpfen. Nachdem ich also eine Weile wie beschrieben agieren musste, durfte ich mich wieder hinlegen. Wieder klopfte und kitzelte der Mann meinen Bauch und meine Beine. 

Nach einer Weile sollte ich aufstehen und in den Spiegel schauen. Der Neurologe fragte mich, ob ich das Gesicht im Spiegel erkenne. „Ja!“, meinte ich, das sei ich. „Das Poster hänge über fast jedem Waschbecken“, erklärte ich ihm. Manchmal sehe der Typ auf dem Poster allerdings komisch aus, fügte ich hinzu. „Ich kenn Dich nicht, aber ich wasch Dich trotzdem“, kündigte der Mann in Weiß an. Um die Bedrohung aufzuhalten, fragte ich ihn, was ich nun eigentlich habe. Leute, die einen bedrohen, muss man ablenken! 

Nach anderthalb Stunden, angefüllt mit Hammertests, Streicheln und dem ruckartigen Schwenken eines Bleistiftes, erklärte mir der Neurologe, was mich quälte. „Ihre linke Körperhälfte ist schwächer als die rechte“, eröffnete mir der Halbgott in Weiß. 

Anderthalb Stunden hatte er gebraucht, um das festzustellen. Der Neurologe empfahl mir, das mal richtig abklären zu lassen und verschwand. 

Ich blieb im Krankenzimmer zurück. Fünf Stunden war ich dort. Seit dem Mittag hatte ich nichts im Bauch. Mich hungerte. Ich war genervt. 

Ich zog mich an und verließ das Zimmer. „Ich gehe!“ sagte ich zu den Schwestern im Bereitschaftsraum. „Nein, das dürfen sie nicht!“, bekam ich zu hören. Ich müsse noch auf den Befund warten. Ok, meinte ich. „Ich bin jetzt fünf Stunden hier, den Befund hole ich morgen.“ Das ginge nicht, bekam ich Bescheid. Nerv! Unruhig und hungrig wartete ich noch eine halbe Stunde und sprach wieder im Bereitschaftsraum vor. Endlich bekam ich eine schlechte Kopie von einem schlechten Fax und durfte gehen. Ich ging. 

Beim Neurologen war ich bis heute nicht. Ich gehe auch nicht. Wenn der Kerl anderthalb Stunden gebraucht hat, um festzustellen, dass meine linke Seite schwächer ist als die rechte, dann kann es nicht so schlimm sein. Oder wie es Andrea, meine Trainerin im Fitnessstudio, ausdrückt: „Jeder hat eine gute und eine schlechte Seite.“