„Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, ein vernünftiges Wort sprechen.“ _Johann Wolfgang von Goethe

Freitag, 28. August 2020

Wie es im Münchner Hofbräuhaus zugeht

 Alois* feierte vor einigen Monaten seinen 83-sten Geburtstag. Natürlich im Hofbräuhaus, seit 60 Jahren kommt er täglich her, an seinen Stammtisch. Früher arbeitete Alois als Koch im Bayerischen Hof, in seiner Freizeit musizierte er als Stehgeiger. Nach dem Geigen kam immer der Stammtisch. Täglich zwei Maß sind ein Muss. Für eine Frau blieb da kein Platz. Alois hält den Rücken gerade, sitzt still. Er hört schwer, aber seine Augen sind überall, es gibt viel zu sehen.

Alois überblickt von seinem Platz die Mitte der "Schwemme." So heißt der berühmteste Raum im Erdgeschoss des Hofbräuhauses. Das gesamte Gebäude im Herzen Münchens wurde 1589 als Brauerei gebaut. Seit 1828 wird Bier an das "einfache Volk" ausgeschenkt. 1500 Gäste finden in der Schwemme Platz. Dicke Säulen und ein bunt bemaltes Kreuzgewölbe nehmen der Schwemme optisch die Größe. Trennwände mit großen Bögen erzeugen gemütliche Ecken. Gern denkt Alois an die jährliche Kirchweihfeier, dann lädt der Wirt alle Stammgäste in den Großen Festsaal im ersten Stock. Dort kostet die Maß (ein Liter) zu diesem Anlass nur 1,50 Mark. In der Trinkstube im Zwischengeschoss gefällt es Alois nicht so gut. "Dort ist es wie in einem normalen Wirtshaus", meint er. In der Schwemme ist mehr los, gibt es mehr zu schauen.


Am meisten schaut Alois allerdings auf den Mund seines Kumpels. Alois möchte alles verstehen, was Josef sagt. Josef kümmert sich ein bisschen um Alois, fast wie ein Sohn um den Vater. Josef verdient als Maurer, ist 52 und sitzt seit 30 Jahren neben Alois. Josef hockt zwischen Alois und Maria. Maria flirtet heftig mit Josef. Sie möchte ihm unbedingt ein Bier ausgeben. Josef will das nicht annehmen, ein bisschen ist es ihm peinlich. "Ich mag Dich doch so, und Du magst mich nicht", winkt Maria ab, sie tut beleidigt. Josef grinst fröhlich, "Ich such eine, die 20 Jahre jünger ist, nicht 20 Jahre älter." Maria ist 74. Seit ihr Mann vor fünf Jahren starb, kommt sie jeden Tag zum Stammtisch. Maria wird ernst, als sie vom Tod ihres Mannes berichtet: "Er hat vor Schmerzen immer geschrieen. Im Haus haben sie gedacht, wir würden uns streiten." Jetzt will sie nicht allein sein. "Ach geh!" Bei Josef ist nichts zu holen. Maria schaut sich weiter um.

Eifrige Kellner flitzen vor Maria herum. 40 Prozent der Bediensteten sind Ausländer, auch Chinesen und ein Inder sind darunter. Die Oberkellner weisen den vielen Touristen gern Kellner zu, die aus deren Weltgegend kommen. Besonders gefällt Maria der griechische Kellner, der hat so schöne schwarze Locken. Alexis kommt aus Thessaloniki. Mit den Vier bis Siebentausend Mark, die er hier verdient, versorgt er zu Hause seine ganze Familie. Den Männern der Kapelle schaut Maria auch gern zu, besonders der Trompeter sieht so fesch aus in seinen Krachledernen. Alle Lieder kann Maria mitsingen.

Inzwischen hat ein Amerikaner mit seiner deutschen Freundin Platz genommen. Josef nickt den Neuen Gästen am Stammtisch Nummer 100 freundlich zu. Die Stammtische sind für jeden offen, das bringt den Stammgästen Abwechslung, das ist ihre Unterhaltung. Die beiden neuen Gäste studieren die Speisekarte. Sie staunen über die kleinen Preise mitten in der großen Stadt. Das teuerste Essen kostet 22,80, die Maß Bier 10,60 Mark. Brian aus Minnesota kennt die bayerische Küche nicht, seine Freundin kommt aus Berlin. Sie fragen Josef um Rat. Josef erklärt die Gerichte. Er soll etwas Leichtes und trotzdem Typisches finden. Josef empfiehlt die Original Münchner Hofbräuhaus-Bratwurst mit Kraut und Erdäpfeln für 10,90 Mark. Die beiden nehmen dann aber doch den O´batzner, einen Camembert, angemacht mit Butter und Gewürzen, mit Zwiebeln und einer Brez´n für 12,50 Mark. Josef isst hier nichts. "Es gibt alles nur mit Kraut und Kartoffeln, Kartoffeln und Kraut und das mag ich nicht." Einfache bayerische Küche zu kleinen Preisen ist im Hofbräuhaus Programm. Die Touristenattraktion soll den Wirtshauscharakter behalten. Der Bierpreis in der "Schwemme", dem Erdgeschoss, wird durch höhere Bierpreise im großen Saal und im Wappensaal ermöglicht. Veranstaltungen mit Programm, "bayerische Abende", für geschlossene Gesellschaften, finden dort statt.

Maria hat Männer erblickt, die sie interessieren. "Japanisch müsste man können", raunt sie Josef zu. "Das sind keine Japaner, das sind Chinesen." Woher er das wisse? "Wenn man dreißig Jahre hier sitzt, dann kann man Chinesen und Japaner auseinander halten. Die sind alle unterschiedlich." Die Kapelle hat ihre Pause beendet. Mit dem Gassenhauer "Herz, Schmerz und dies und das", wird nun eingeheizt. Maria singt mit. Mit ihren Händen, weist sie im Takt von ihrer Brust auf die chinesische Herrenrunde. Die Asiaten werden auf Maria aufmerksam. Sie lächeln schüchtern und winken höflich zurück. Plötzlich starren die Chinesen an Maria vorbei. Die Tischreihe hinter Stammtisch Nummer 100 wird jetzt von 35 weiblichen italienischen Teenies bevölkert. Alle tragen Weihnachtszipfelmützen. Josefs Arm möchte die ganze Mädchenschar umfassen. "Ja mein Gott, sind die aber hübsch! Alle miteinander!" Ausländer und Touristen gehören für Josef und seine Freunde dazu, "sonst wär´s nicht das Hofbräuhaus und langweilig." "Ah geh!", Maria ist über die Konkurrenz enttäuscht.

"Resi ich hol dich mit´n Traktor ab", donnert die Kapelle. Die Italienerinnen springen auf die Bänke. Im Rhythmus bewegen die Lolitas die Arme. Die Chinesen flippen aus. "Klick, klick, klick", machen ihre Fotoapparate. Maria ist enttäuscht. Josef möchte sie mit Alois zusammenbringen. "Ah geh, der kann mich mal am..." Alois nimmt´s gelassen. Er hat seine zwei Maß für heute geschafft. Gut unterhalten hat er sich auch wieder, mit Jürgen, der bei der Telekom arbeitet und mit Franz, dem pensionierten Postbeamten. Interessante Sachen erfuhr er heute von den jungen Leuten. Franz hat ihm erklärt, wie ein Lautsprecher funktioniert. Josef hilft seinem Freund Alois in den Lodenmantel. Gemeinsam gehen sie zum Maßkrugtresor. Alois hat einen eigenen Maßkrug, den er hier einschließen kann. Jahrelang hatte er auf eins der 424 Fächer gewartet. Der Wirt vergibt sie persönlich. Morgen wird Alois wieder hier sein. "Und am Freitag, da treffen wir uns alle vierzehn Einhunderter!"

Von Michael Zeng

* Alle Namen sind geändert.