Freitagmittag im Büro. Die Woche steckt mir in den Knochen. In mir kämpfen Müdigkeit und freudige Aufgeregtheit. Die Woche hat ermüdet, das Wochenende lockt, will gefeiert werden. Ich werde mich mit Freunden treffen, an der frischen Luft sein, ausschlafen. Feiern! Juhu! Da kam der Anruf. Meine Kollegin nahm den Hörer ab, meldete sich, lauschte in den Hörer. Sprach dann in das Mikro: „Ich hab keine Zeit, ich gebe Dir mal Michael.“ Sie stellte mir das Gespräch durch. Ich nahm ab.
„Hallo, hier ist Thomas“, schallte es mir in die Ohren. Oh Gott, der Bürgermeister ist ein Bekannter meines Chefs. Dem müssen wir alle Wünsche erfüllen. Was kann der wollen, in Sichtweite des Feierabends. Thomas plapperte los. Bemüht witzig wie ein Alleinunterhalter auf der Seniorenweihnacht.
Ob ich Lust hätte, fragte der Bürgermeister, einen alten Mann vom Bahnhof abzuholen und ihm ein bisschen Berlin zu zeigen? Wie, was, alter Mann und Berlin zeigen? Na ja, rückte Thomas heraus. Ein alter Ukrainer war bei uns in W. Hat das Grab seiner Schwester besucht. Heute fährt er mit dem Zug zurück. Eben habe ich ihn zum Bahnhof gebracht. Er muss in Berlin umsteigen, hat Aufenthalt. Du holst ihn einfach ab, zeigst ihm den Reichstag und so weiter. Dann bringst Du ihn wieder zum Bahnhof. Das war’s. Mehr nicht. Hm! Brummte ich. Wie erkenne ich ihn? Er hat eine weiße Mütze auf. Du erkennst ihn schon: Ein alter Mann, der eine weiße Mütze auf hat und nur russisch spricht. Na ja. Gut, ich mach’s. Der Bürgermeister gab mir noch seine Handynummer, sagte mir, wann und auf welchem Bahnsteig der Zug kommt. Das war’s. Freizeichen.
Worauf hatte ich mich da eingelassen. Spricht nur russisch, schallte es mir zwischen den Ohren. Ich hatte zwar in der Schule Russisch gelernt, aber das Wissen nie außerhalb des Klassenzimmers anwenden können oder wollen. Außerdem war die letzte Russischprüfung zwanzig Jahre her und gerade eben bestanden. Na ja, was soll’s. Ich hol den Alten ab, führ ihn zum Reichstag. Zeig ihm das Paul-Löbe-Haus, dann geht’s zurück zum Bahnhof, das war’s.
Zwischen Feierabend und Ankunft des alten Manns, hatte ich ein bisschen Zeit. Ich fuhr nach Hause, suchte mir im Internet ein paar russische Phrasen zusammen und radelte zum Bahnhof.
Ich war spät dran. Erreichte den Bahnhof leicht erschöpft. Schloss das Rad an, wetzte zum Bahnsteig. Der war leer. Kein alter Mann mit weißer Mütze zu sehen. Der Bahnsteig blieb leer. Halt, da schlenderte ein Bahner herum. Den schnappte ich mir: „Haben Sie einen alten Mann gesehen, mit weißer Mütze? Er spricht kein Deutsch.“ „Ja, der war hier. Wusste nicht wohin. Ich hab den Service angerufen. Der hat ihn abgeholt.“ „Abgeholt? Und wohin gebracht,“ fragte ich. Das wusste der Bahner nicht. Ich solle zum Service-Point gehen und fragen. Der Point sei in der Bahnhofshalle am Ausgang Richtung Reichstag. Ich stürzte in diese Richtung. Am Service-Point fragte ich eine hübsche Blondine in Uniform: „Ich suche einen alten Mann. Er wurde vom Service vom Zug aus Eisenach, um 19.15 Uhr vom Gleis sieben abgeholt. Der Mann spricht nur russisch und hat eine weiße Mütze auf. Ich soll mich um ihn kümmern.“ Die Blondine zückte ein Handy, wählte, wiederholte meine Angaben und lauschte. Dann bedankte sie sich und legte auf. Der Mann sitzt am Gleis zwölf, Abschnitt D. Also dorthin.
Gleis zwölf, Abschnitt D. Dort saß er. Ich erkannte ihn sofort. Ein alter Mann mit weißer Mütze, so einem Teil, wie nur alte Russen tragen, mit Schirm, das Kopfteil gebauscht. Da saß er in einfacher Garderobe auf einer Bank. Vor ihm stand eine alte schlaffe Reisetasche. Nun gut, gefunden hatte ich ihn. Was nun! Mein Russisch reichte nicht für eine Erklärung. Ich ging auf den Mann zu, grüßte auf Russisch und fragte ihn, ob er Thomas B. kenne. Er nickte. Ich war am Ende mit meinem Russisch. Ich setzte mich neben ihn. Ich zeigte auf mich und erklärte, ich heiße Michael und mit Familiennamen Zeng, so wie sich die Russen vorstellen. Das wusste ich noch. Er sagte seinen Namen. Dann schwiegen wir wieder. Mit Händen und Füßen fragte ich, ob er ein bisschen laufen wolle. Er zeigte auf seine Beine, erklärte, er sei alt und sagte: Njet. Wir schwiegen wieder. Dann sprachen wieder meine Hände, meine Arme und mein Gesicht. Ob wir essen gehen wollten, verstand er. Wieder kam das Njet. Es sei ihm zu teuer meinte er. Ich rieb den Daumen am Zeigefinger, ich wolle zahlen. Der alte Mann schüttelte den Kopf. Auch im Russischen heißt das Nein. Der alte Mann beugte sich nach vorn, zog den Reißverschluss seiner Reisetasche auf und zeigte mir zwei Flaschen deutschen Bieres und eine Packung Kekse. Er habe zu essen, behaupteten seine Gesten. Wieder schwiegen wir. In meinem Kopf funkten die Nervenzellen, klickten die Synapsen. Mit Bier und Keksen will der eine Nacht und einen Tag im Zug sitzen... Mein Hirn ratterte, mein Gewissen schlug mir. Plötzlich ging mir die Glühbirne auf. Ich ließ den alten Mann sitzen und ging einkaufen. Ich erstand zwei belegte Baguette, eins mit Käse, eins mit Wurst. Ich kaufte drei Flaschen gutes Bremer Bier und eine Flasche Wasser. Dazu gesellten sich eine Tafel Schokolade und zwei russische Zeitungen. Mit zwei vollen Plastetüten trat ich wieder vor dem alten Mann. Ich stellte die Beutel vor ihn hin und bedeutete, es sei ein Geschenk. Erst zögernd, dann neugierig kuckte der Mann in die Tüten. Er zog die Henkel auseinander und lugte hinein. Dann fasste er zu. Er fand das Bier. Öffnete die Papiertüten der Baguette. Drückte das Papier wieder zusammen. Er freute sich, betrachtete die Schokolade und entdeckte die Zeitungen. Sorgfältig und behutsam schloss der alte Mann die Tüten wieder. Nun stand er auf und stellte sich vor mich. Ich erhob mich ebenfalls. Der alte Mann breitete die Arme aus trat auf mich zu und drückte mich an sich. In seinen Augen glitzerte es. Er umarmte mich und sagte etwas. „Du bist mein Freund!“, verstand ich. Ich sagte „Da, da!“, also ja, ja und sagte Druschba, also Freundschaft.
Wir setzten uns wieder und schwiegen. Nach einer Weile wies ich mit großer Geste auf die Bahnhofshalle. Bolschoi, groß, meinte ich. Da, moderna, ja, modern, fachsimpelte der alte Mann. Wieder Sendepause und Funkstille. Plötzlich beugte sich der alte Mann nach vorn und zog eine Plastehülle aus seiner Reisetasche. In dieser befand sich ein Foto und ein Zeitungsartikel. Das Foto war in schwarz-weiß. Eine junge Frau war zu sehen. Nicht hübsch, nicht hässlich. Sie trug ein schmuckloses Kleid mit Arbeitsschürze. Über der linken Brust stand in gotischen Lettern das Wort „Ost“. Die junge Frau kniete, blickte aber offen und gerade in die Kamera. Das ist meine Schwester, verstand ich den alten Mann. Dann gab er mir den Zeitungsartikel.
Der Zeitungsartikel:
Abschied von Anelja
Stanislaw Ilnizky ist 83 Jahre. Er ist aus einem Ort bei Kiew nach Deutschland gekommen. Für einen Abschied. Nach Jahrzehnten der Ungewissheit hatte er erfahren: Bei W. ist seine Schwester begraben.
[Ortsangabe] W. Gestern in der Kriegsgräberstätte in den Erlengräben. Eine Szene, die schweigend macht. Ein weißhaariger Mann stellt einen Kranz vor die zwölf Metalltafeln mit den Namen von 455 Opfern der mörderischen Bedingungen in den Zwangsarbeiterlagern während der Nazi-Zeit. Auf der siebenten Tafel, dritte Reihe von oben, steht der Name, den er so lange gesucht hat. Anelja Ilnizka, seine Schwester, sie wurde nur 19 Jahre alt. Gestorben am 28. Juli 1944 in Wutha. Der grauhaarige Mann breitet ein grünes Tuch auf dem nackten Boden aus. Er deckt den "Tisch" für Anelja - ein allerletztes Mal: ein Kuchen, den er aus der Heimat mitgebracht hat, Süßigkeiten, eine Wurst, Schinken. Später streut er ukrainische Erde an vier Stellen auf die Grabflächen und füllt die deutsche Erde, in der seine Schwester begraben liegt, in ein Glas - für daheim. Die Gemeinde W. ermöglicht Stanislaw Ilnizky den Aufenthalt und betreut ihn. Bürgermeister Thomas B. und eine kleine Abordnung begleiteten ihn und erfüllten seinen Wunsch nach einem katholischen Geistlichen.
Ein Redakteur
Thüringer Allgemeine Herbst 2007
Das saß. Ich begann zu schwitzen. Meine alte These wankte, das mich das alles nichts anginge, weil ich nicht verantwortlich sei für die Taten meiner Großelterngeneration. Wie hätte ich mich wohl aufgeführt in einem Land, dessen Senioren vielleicht meine Schwester auf dem Gewissen hätten?
Da saß ich nun. Sprachlos und mit leerem Kopf, leicht panisch. Gott sei Dank unterhielten wir uns weiter. Nicht mit Worten. Ein Anstoßen, Grinsen und Augenzwinkern über eine aufgeregt sich aufplusternde Frau auf dem Bahnsteig, sagte mehr als hundert Festreden über Vergebung. Als nächstes interessierte ihn mein Fahrradhelm. Ob ich ein Motorrad habe, fragte er. Er staunte, weil ich mit dem Fahrrad da sei und einen solchen Helm trage. Der Straßenverkehr in Berlin sei sehr gefährlich, einigten wir uns. Auch seien acht Kilometer einen gute Entfernung, um mit dem Rad zu kommen. Danach fanden wir die deutschen ICE-Züge bemerkenswert und modern. Rote Doppelstockzüge waren eindeutig interessant. Einer aufgedonnerten Rothaarigen schauten wir gemeinsam hinterher. Die Rundungen ihres Lederminis fanden wir beide gut. Gemeinsames Nicken mit Kennermiene. Bald tauschten wir die Adressen. Er wolle schreiben, ich wolle schreiben, versicherten wir uns. Sogar Besuchspläne wurden geschmiedet.
Dann kam der Zug. Gemeinsam suchten wir das Abteil des alten Mannes. Ich trug die Tasche. Wir wühlten uns durch zahlreiche Polen hindurch und fanden schließlich das Abteil. Während des Suchens, Drängelns und Quetschens verständigten wir uns mit Blicken und leichter Mimik. Es klappte. Ich fühlte mich, als brächte ich meinen Opa zum Zug. Der Abschied kam. Das war im vergangenen Spätsommer. Seitdem habe ich was zum Überlegen.
(Die deutschen Namen sind geändert.)
12.04.2008