„Man sollte alle Tage wenigstens ein kleines Lied hören, ein gutes Gedicht lesen, ein treffliches Gemälde sehen und, wenn es möglich zu machen wäre, ein vernünftiges Wort sprechen.“ _Johann Wolfgang von Goethe

Donnerstag, 17. September 2015

„Damit ich am Menschen nicht verzweifle.“

„Damit ich am Menschen nicht verzweifle.“ Damit hat der russische Schriftsteller Dostojewski begründet, warum er sich so oft und so lange die Sixtinische Madonna von Raffael anschaut.


Wir schauen uns das Gemälde auch an. Links kniet irgendein Papst. Dargestellt als Heiliger Sixtus. Daher der Name des Bildes. Dass es ein Papst ist, sehen wir an der Krone links unten. Er hat das Bild bezahlt. Die Figur zeigt auf ein Kreuz, das ursprünglich gegenüber dem Bild hing.
Rechts sitzt die Heilige Barbara. Demütig wendet sie den Blick nach unten. Barbara hält Blickkontakt mit dem rechten Engel. Der linke Engel schaut nach oben in die Mitte des Bildes.

Noch traue ich mich nicht, zu schreiben, was wir dort sehen, in der oberen Mitte des Bildes. Ich umschreibe weiter.

Das Bild wurde gemalt mitten in der italienischen Renaissance, vor etwa 500 Jahren.

Eine Generation zuvor malte Sandro Botticelli „Die Geburt der Venus“.


Eine blonde Junge Frau wird aus der Gischt des Meeres geboren. Der Hals ist anatomisch etwas zu lang und die Malweise bleibt plakativ und ist noch fast mittelalterlich. Trotzdem setzt Botticellis Venus Maßstäbe in Sachen Schönheit. An ihr muss sich jede blonde junge Frau messen lassen bis heute.
Botticelli lässt Venus, eine heidnische Göttin, schön sein. Okay, das ist eine heidnische Götze, die darf man angaffen und fraulich schön finden. Die hat es nicht anders verdient.

Und nun, eine Generation später: Raffael Santi. Er malte schön die heiligste Frau, die Mutter von Jesus, von Gottes Sohn, dem Vater gleich. Aber nicht der Erlöser, der Gesalbte, der Christus steht an der Spitze des Dreiecks, das das Gemälde beherrscht. Maria, die Madonna, steht an der Spitze, fast möchte ich sagen, an der Spitze der Evolution, aber die kannte Raffael noch nicht.

Auf den ersten Blick schaut auch Maria dorthin, wohin der Papst zeigt, auf das Kreuz.

Auf den zweiten Blick erkennen wir es: Maria schaut uns an, uns alle, uns, die Menschheit.

Maria präsentiert uns ihren Sohn. Sie zeigt den schüchternen Stolz einer jungen Mutter. Aber Maria ist auch traurig: „Seht, das ist mein Sohn! Er wird euch zeigen wollen: Die Liebe ist die größte Macht. Das Verzeihen die größte Heldentat. Und ihr? Euch fällt nichts ein, außer meinen Sohn ans Kreuz zu schlagen. Seit über zweitausend Jahren macht ihr ein großes Tara ums Todeskreuz meines Sohnes. Aber immer noch hasst ihr und tötet und verurteilt.“ Das rufen Marias Augen.

Auch Jesus graut vor dem, was ihn erwartet. Aber er wird es tun, predigen, leiden und grausam sterben.

Aber treten wir einen Schritt zurück und sehen uns nur das an, was wir sehen.
Wir sehen nicht, wir gaffen. Wir gaffen wie die Affen. Wir begreifen nicht, wie ein Mensch mit Pinsel und Farbe so ein Bild malen kann.

Und da kommen wir zurück zu Dostojewski. Er hielt die Sixtinische Madonna für die „höchste Offenbarung des menschlichen Geistes“.

Mehr bleibt nicht zu schreiben.

Michael Zeng